Der Verein pro grün e.V. hatte zur Diskussion in das Historische Museum Bielefeld eingeladen, um über Ideen und Projekte gegen den Landschaftsverbrauch zu sprechen. Über 60 Bielefelderinnen und Bielefelder waren trotz hochsommerlicher Temperaturen gekommen. „Wir müssen mit dem ungezügelten Flächenfraß aufhören“, stellte Martin Enderle vom Verein pro grün e.V. gleich im Eingangsstatement klar. Jedes Jahr entziehen wir der Natur eine Fläche, die größer ist als das Stadtgebiet von Köln. Einfach weiter bauen und Landschaft verbrauchen, ist kein tragfähiges Zukunftskonzept. Da aber auch in Bielefeld dringend Wohnungen gebraucht werden, schlägt pro grün e.V. vor, vermehrt Leerstände und Baulücken zu nutzen, um neuen Wohnraum zu schaffen.
Ein auch in Fachkreisen hochaktuelles Thema, wie die zur Veranstaltung eingeladenen Architekten bestätigten. Die Stadt Bielefeld will jetzt, unter anderem auch auf Anregung von pro grün e.V., einen Leerstandsmanager einstellen, der gezielt potenziellen Wohnraum suchen und aktivieren soll. Andere Städte gehen das Problem offensiver an, berichteten die Architekten. In Köln gilt zum Beispiel ein Zweckentfremdungsverbot. Wer dort ein Haus ungewöhnlich lang leer stehen lässt, dem droht ein Bußgeld. Einige der anwesenden Experten schlugen vor, auch mal – wie in anderen Städten längst üblich – über Bauverpflichtungen nachzudenken. Damit verhindert man, dass ausgewiesene Baugrundstücke jahrzehntelang brach liegen, was in Bielefeld häufig zu beobachten ist.
Martin Enderle stellte anhand der interaktiven Leerstandskarte von pro grün e.V. typische Leerstände und Baulücken in Bielefeld vor. Über 300 Treffer, die der Verein anonymisiert veröffentlicht, sind in der Internetkarte schon verzeichnet. Von kreativen Lösungen, die Wohnraum schaffen ohne freie Landschaft zu verbrauchen, berichteten die Bielefelder Architekten Andreas Wannenmacher und Michael Pappert in ihren beeindruckenden Vorträgen. Beide betonten, dass auch Aufstockungen und Dachausbauten ein großes Potential für neuen Wohnraum bilden. 1,5 Millionen neue Wohnungen sind bundesweit durch Aufstockungen möglich, so die Experten. Die Architekten Norbert Engelage, Ralf Enderweit und Stefan Kannegießer ergänzten mit ihren clever genutzten Baulücken.
Baulücken nutzen, Aufstocken oder alte Leerstände modernisieren ist in der Regel nicht der leichteste und billigste Weg neuen Wohnraum zu schaffen. Im Baugebiet auf der grünen Wiese ein Standardeigenheim zu bauen ist oft einfacher und billiger. Der Wunsch der Planer an die Stadt: Wer bereit ist, ökologisch verantwortlich Baulücken und Leerstände zu aktivieren, sollte nicht durch übertriebene bürokratische Hemmnisse und veraltete Bebauungspläne behindert werden. Bielefeld braucht mehr Wohnraum und weniger Landschaftsverbrauch. Ein scheinbarer Gegensatz, der sich mit engagierter Stadtplanung und architektonischer Kreativität auflösen lässt. Pro grün e.V. wird die Daten der interaktiven Leerstandskarte dem neuen Leerstandsmananger oder der neuen Leerstandsmangerin übergeben, sobald der Posten tatsächlich geschaffen ist. Bis dahin hofft pro grün e.V. auf viele weitere Einträge in die interaktive Leerstandskarte.
Tilman Rhode-Jüchtern, pro grüne e.V. Vorstand, schlägt in der Sendung vor, die von pro grün e.V. herausgefundenen Leerstände zu nutzen, um Flüchtlingen aus der Ukraine übergangsweise sicheren Wohnraum zu geben. Link zur Sendung:
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/stadtgespraech/ukraine-hilfe-fuer-gefluechtete-100.htmMachen Sie mit!
Im August 2021 rief pro grün die Bürgerinnen und Bürger auf, Leerstände in Bielefeld zu melden. Inzwischen haben wir fast 250 Eintragungen in unserer interaktiven Karte, über 100 davon leerstehende Wohnhäuser, zum Teil mit mehreren Wohnungen. Die Karte ist längst noch nicht vollständig. Neben unbewohnten Häusern, die man z.T. recht leicht erkennt, gibt es nach pro-grün-Einschätzung auch eine Vielzahl leerstehender Wohnungen in Gebäuden, die ansonsten vermietet sind. -- Insgesamt schätzen wir die Anzahl von Wohnungsleerständen in Bielefeld vierstellig!
Es handelt sich zumeist um Privateigentümer, nicht selten jedoch auch um gewerbliche, also z.B. Projektentwickler, die bebaute Grundstücke erworben haben, um den Bestand irgendwann zugunsten von Neubauten abzureißen.
Der Verein pro grün e.V. appelliert an alle Immobilienbesitzerinnen und -besitzer, die über Leerstände verfügen, diese - wenn eben möglich - der Stadt zur Unterbringung Geflüchteter zur Verfügung zu stellen. Wenn Strom, Wasser und sanitäre Einrichtungen funktionsfähig sind, sollte es kaum ein Problem geben, Menschen aus der Ukraine für eine gewisse Zeit ein Dach überm Kopf zu geben.
pro grün unterstützt den offen Brief an Oberbürgermeister Pit Clausen, in dem über 40 Bielefelder VerbändeInstitutionen, Organisationen und Vereine sich gegen den vierspurigen Ausbau der Herforder Straße aussprechen.
Link: Offener Brief an Oberbürgermeister Pit Clausen
Die großen Schlagworte der letzten Jahre sind: Wohnungsnot, bezahlbarer Wohnraum, „Großes Karo“ im „Freiraum“, Einfamilienhäuser, Verbieten und Regulieren, Verdichten, Frischluftschneisen, Bevölkerungswachstum, Uni-Boom u.v.m.
Streitig sind dabei u.a.: „Flächenfraß“ und Bioland, Eigentumsschutz und Gemeinwohl, Erschließung und Verkehrswende, Lebensstil und Nachhaltigkeit.
Bisher schien es leichter, im „Großen Karo“ auf der sog. Grünen Wiese zu bauen. Streusiedlungen mit Einzelhäusern waren die begehrte Wohnform. Aber kurzfristig wurde auch bewusst: Fläche und Grün wachsen nicht nach, Bauernhöfe sind wirtschaftende Betriebe; Boden und Gebäude im Areal der Stadt sind oftmals nur privates Spekulationsgut; größere Akteure stammen eher selten aus der eigenen Kommune. Ein gesellschaftlicher Diskurs zu neuen Wohnformen und Alternativen findet kaum statt. „Baukultur“ ist nur vereinzelt Thema und Initiative Einzelner und weniger gesellschaftlicher Gruppen.
Einzelne Parolen stehen dann auch kaum zur Diskussion, sie sind vielmehr Machtinstrumente. „IT NRW sagt uns …“, „Wir haben die Zahlen“, „Politik entscheidet“.
Die Gegenparolen lauten: Finger weg von der Grünen Wiese, Klimaschutz, Verkehrswende, Innenverdichtung, Lückenschluss, Intensivierung der Nutzung.
Eine wichtige Kategorie sind Leerstände, seien es Baugrundstücke oder Häuser und Wohnungen. Genaue aktuelle Zahlen hat niemand, mangels Interesse aus der Politik und Verwaltung und wegen schwierigen Zugriffs auf privates Eigentum und Informationen über die Eigentümer. Die versteckten Reserven könnten erheblich sein.
Bevor irgendwie gehandelt werden kann, braucht man Erkenntnisse über den Bestand in dieser Flächenreserve. Da helfen bislang weder „IT NRW“ noch die Stromzähler der Stadtwerke. Und wer sich überhaupt daran wagt, riskiert den Vorwurf, Verbots- und Kontrollpartei zu sein.
Dabei ist die Legitimation eigentlich ganz einfach, jedenfalls wenn man das Grundgesetz ernst nimmt:
1. „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“. 2. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“ (Art.14 GG)
Ein Blick über den kommunalen Zaun (z.B. bundesweit: Leerstandsmanagment.de) zeigt die recht einfachen Werkzeuge: Ängste nehmen, Informationen/ Bauberatung/ Förderung anbieten, Vertrauen schaffen, jeden Fall einzeln ernst nehmen, politisch und gesellschaftlich an einem Strang ziehen, Anreize schaffen statt Abschreckung.
Pro Grün tut nun den nötigen ersten Schritt, nämlich Baulücken, Leerstände feststellen und deren Potenzial abschätzen. Dies kann nur im Sinne von „Anschieben“ und Sensibilisieren funktionieren, im Einklang mit den Nachbarschaften, die sich besser auskennen. Das darf weder zu einem Pranger führen noch zu falschen/ unerwünschten Investoren, die sich diese Infos zunutze machen möchten. Dafür ist eine vertrauenswürdige Zusammenarbeit mit der Verwaltung und darin mit einer neuen Stabsstelle notwendig.
Was nun konkret getan wird:
pro grün schiebt das Thema „Leerstände in Bielefeld“ an.
Freie Grundstücke und leerstehende Wohnhäuser werden gemeldet und in eine Datenbank übertragen. Die Daten werden anonymisiert in einem Stadtplan markiert. Die Objekte sind so nur ganz grob zu erahnen, aber nicht zu identifizieren. Die Daten stehen aber im Hintergrund zur Verfügung, z.B. zur Übergabe an die Stadtverwaltung, für ein künftiges offizielles Leerstandsmanagement und für die öffentliche Debatte.
Damit soll geprüft werden, wie groß die Reserven für eine Wohnungsnutzung in Bielefeld in diesem Segment tatsächlich und erkennbar sind.
Das heißt noch nicht, dass diese Reserven einfach dem Markt verfügbar gemacht werden können; aber man weiß, wie groß die Reserven sind und wo sie liegen.
Es kommen nur solche Objekte in Frage, die offensichtlich und für jedermann erkennbar leerstehen.
Die Meldungen werden in einen Stadtplan und in die homepage von pro grün übertragen und sind dort anonymisiert dargestellt.
Jeder Einzelfall wird eine eigene Geschichte haben, aber der Artikel 14(2) im Grundgesetz gilt auf jeden Fall – genauer: ihm wäre auf jeden Fall Geltung zu verschaffen.
26.01.2022 TV-TIPP
Einen interessanten Fernsehbeitrag zur dringend erforderlichen Reduzierung des Flächenverbrauchs hat das WDR-Magazin Markt gesendet. Zu sehen in der WDR Mediathek (etwa ab Minute 20).
https://www1.wdr.de/fernsehen/markt/sendungen/uebersichtsseite-markt-500.html
28.02.2022 Westfalenblatt
https://progruen-ev.de/medien/uploads/files/20220228%20Westfalenblatt.pdf
Am 12. Mai 2021 wäre Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden.
Seine Idee von den „7000 Eichen“ und von der „Stadtverwaldung“ auf der Kasseler documenta 7 (1982) trug bereits 3 Jahre später Früchte in Bielefeld. Der damalige Kunsthallenleiter Ulrich Weisner sah die brachliegenden Wallanlagen von der Kunsthalle über den Jahnplatz bis zum Landgericht und sicherte zwei der Basaltstelen von der dokumenta für Bielefeld. Dutzende von Bielefelder Bürgern und großen Firmen übernahmen Patenschaften für die Bäume, einen Baum pro Lehrling.
Der Verein Pro Grün übernahm im zehnten Jahr seines Bestehens das Management und die Buchführung in einem schweren Folianten, der heute im Stadtarchiv liegt. Der „Grüne Stadtring“ wurde installiert und zeichnet im Hufeisen das historische Bielefeld nach.
Allerdings wird daran zuweilen geknabbert. Viele Bäume und eine Basaltstele wurden sei es für ein Regenrückhaltebecken im Park der Menschenrechte entfernt; mal stören die Äste eine Stromleitung für die Stadtbahn vor der Kunsthalle; mal kommt die Motorsäge für eine Baustellenzufahrt beim Jahnplatzumbau (Friedenstraße). Im Zuge einer möglichen oberirdischen Verlegung der Stadtbahnlinie 1 würde wohl ebenfalls die Säge angesetzt.
Jetzt gilt es wieder aufzupassen: Eine mögliche Rampe für ein Fahrradparkhaus vor dem ehemaligen Kaufhaus „Opitz“ könnte wieder eine Lücke schlagen.
Bei aller Sympathie für Fahrräder und Bauen im Bestand: Pro Grün warnt vorbeugend und dringend vor der Motorsäge im Grünen Stadtring. Der „Grüne Stadtring“ ist keine Planungsreserve.
von Tilman Rhode-Jüchtern, Vorsitzender pro grün e.V.